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Brahms-Requiem - Erweckung der Lichtsehnsucht

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Das Erwecken der Lichtsehnsucht

»Mich hat dieses Requiem ergriffen wie noch nie eine Kirchenmusik», sagte Clara Schumann über das Meisterwerk »Ein deutsches Requiem« (op. 45) von Johannes Brahms.

Kurz nach dem Tod seiner innig geliebten Mutter, im Februar 1865, vollendete Johannes Brahms 32jährig sein Requiem. Das Gemälde entstand genau zu dieser Zeit.Wenn Musik und Sprache eine Vereinigung eingehen, so gibt es zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten, die sich gegenseitig fördern und stärken oder aber auch behindern und schwächen können. In Grundzügen läßt sich jedoch sagen, daß drei Dinge wichtig sind:

1. Welches Niveau hat der Text und die Musik?
2. In welche Richtung führen uns beide – aufwärts, abwärts oder in die Breite?
3. Wie gut passen die beiden „Partner“ zusammen?

So kennen wir Musik, Lieder, Schlager usw., die zwar vielleicht gefällig sind, aber von vornherein nicht zur Sammlung, sondern zur Zerstreuung dienen, mit einer in die Breite zerfließenden Wirkung. Oder aber durchaus genial komponierte Werke, die allerdings eine depressive Grundstimmung aufweisen und uns nach dem Anhören eher niedergeschlagen und frustriert zurücklassen. Des weiteren Opern, die zwar kompositorisch erstklassig sind, aber ein oberflächliches Libretto aufweisen, usw. Außerdem schwächt, trotz vielleicht bester Absicht, ein der Schöpfungswahrheit nicht entsprechender Text stets auch mehr oder weniger die anrührende Wirkung der besten Musik, was sich besonders im Bereich der Kirchenmusik zeigt!

Die Synthese eines sehr hohen Niveaus und einer stark aufwärtsführenden, seelisch-geistigen Wirkung sowohl in der Musik als auch im Text finden wir nicht allzu häufig; aber z.B. die „Gralserzählung“ in Richard Wagners Oper „Lohengrin“ und eben „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms gehören dazu.

1856 verlor der große, in seinem Wesen durchaus herb und einzelgängerisch veranlagte Komponist Johannes Brahms, gerade einmal 23jährig, unter dramatischen Umständen einen seiner wenigen und teuersten Freunde, Robert Schumann, was ihn sehr erschütterte. Im selben Jahr noch begann Brahms sein „Deutsches Requiem“, dessen Fertigstellung sich zwar über etliche Jahre hinzog, das aber, ohne entsprechende Vorläufer, aus dem Stand heraus ein Meisterwerk wurde und seinen Ruf als Komponist von Weltrang mitbegründete. Schon am Beginn steht ein sehr mutiger, für die damalige Zeit spektakulärer Schritt: Brahms löste sich völlig von der bis dahin kirchlich-dogmatisch vorgegebenen Textfolge eines Requiems mit Introitus, Kyrie, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus dei und Communio in lateinischer Sprache und dem besonders im Dies irae enthaltenen starken Aspekt des „rächenden Gottes“. Stattdessen suchte er sich selbst aus den Psalmen und dem Neuen Testament der Luther-Bibel die Stellen heraus, die er vertonen wollte. Die deutsche Sprache und die sehr gute Verständlichkeit des gesungenen Textes beweisen, daß Brahms seine Hörer nicht nur musikalisch, sondern auch sprachlich, inhaltlich erreichen wollte. Er weigerte sich außerdem standhaft, dem Druck aus Kirchenkreisen nachzugeben und Änderungen vorzunehmen.

Das Ergebnis ist ein Werk, bei dem sich Musik und Sprache gegenseitig ungemein verstärken und machtvoll an die Tür unserer Empfindung pochen. Wenn häufig zu lesen ist, es gehe im Brahms-Requiem um Tod und Trauer auf der einen, um Trost und Erlösung auf der anderen Seite, so wird man damit der Tiefe dieses Werkes nur teilweise gerecht: Es weist weit darüber hinaus und berührt die Grundfragen des Menschseins und des geistigen Entwicklungsweges, der vor uns allen liegt, wenn wir in unsere Heimat, in das Reich Gottes, zurückkehren wollen.

Und ist dabei nicht das größte Hindernis, die schwerste Last, die wir freiwillig tragen, unsere Aufgeblasenheit? Unsere vermeintliche Wichtigkeit? Unser Besserwissenwollen? Unsere Meinung, problemlos ohne den Schöpfer auskommen zu können? Unser Wahn, mit unserem Verstand und Können alles unter Kontrolle zu haben? Aber andererseits stets mit unserer Ohnmacht konfrontiert zu werden, einem scheinbar blindwütigen und willkürlichen Schicksal ausgeliefert zu sein, Krankheit und Tod im Nacken? Das hochgradig unsichere Gefühl, nur Irdisches als einzigen Halt zu haben, der sich schnell als ein Nichts erweisen kann?

Diese Last bedrückt uns fast ausnahmslos alle, mehr oder weniger. Und doch sehnt sich unser Geist nach Befreiung davon, die aber nur über die Erkenntnis erreichbar ist, und dann folgend, über den – meist als furchtbar altmodisch und teilweise als sklavisch empfundenen – Weg der Reue und Umkehr, der Demut, der Ehrfurcht, der Suche nach Geborgenheit. Vermutlich erscheint uns dieser Weg, auf dem wir unserer Lichtsehnsucht folgen könnten, deshalb als unzeitgemäß oder sogar abstoßend, weil er an unserer vermeintlichen Größe rüttelt.

Nun, das Wunder, diese wertvollen und auf eine geheimnisvolle Art sehr wohltuenden Empfindungen in uns auszulösen, vollbringt das Brahms-Requiem selbsttätig, wenn wir uns ihm öffnen; und es ist aufgrund seiner ausgesprochen schönen und wirklich ergreifenden Klänge sehr schwer, es in unsere Seele, unseren Geist, nicht hineinzulassen!

Die Struktur des Werkes ist spiegelsymmetrisch um den zentralen 4. Satz herum angegliedert. Der 1. Teil: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten …“ bezeichnet den Erkenntnisprozeß, daß wir uns alles Leid selbst zugezogen haben und demnach „mit Tränen“, mitten in den Folgen unserer Altlasten, eine neue, bessere Aussaat machen dürfen, die wir dann zur gegebenen Zeit „mit Freuden ernten“ können! Erkenntnis, Reue und Umkehr!

Der 2. Teil beginnt mit: „Denn alles Fleisches ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen …“ Hier der Hinweis auf die irdische Vergänglichkeit und die völlige Abhängigkeit vom Kraftstrom aus Gott! Demut!

„Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit.“ Dieser kurze Abschnitt ist der strahlendste des ganzen Werkes: Gott war, ist, und wird in alle Zukunft das Maß aller Dinge bleiben! Ehrfurcht!

„Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen … ewige Freude wird über ihrem Haupte sein …“ bezeichnet die Rückkehr der erlösten, von aller Schuld befreiten Geister in das Reich Gottes, ins Paradies. Geborgenheit!

Dieser Teil rückt wie kaum ein anderer das Verhältnis „Schöpfer-Mensch“ ins richtige Lot.

Der 3. Teil: „Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß …“ spricht die Bereitschaft an, zu lernen, sich höheres Wissen zum Aufstieg anzueignen. Demut und Kindlichkeit, die sich einfügen will! Bestärkt wird das Ganze durch: „Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben. Sie gehen daher wie ein Schemen und machen ihnen viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.“ Das ziellose Scheinleben des Materialisten!

Über weite Strecken eher sanft und vielleicht dadurch um so bezwingender folgt der zentrale 4. Teil. Mit unglaublicher Innigkeit und Wärme in den Klängen stimmt er weich und weckt machtvoll die Lichtsehnsucht! „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn …“ Ein Hauch aus der Heimat, aus dem Paradies! Ausdrücklich heißt es auch: „… nach den Vorhöfen des Herrn“! Also in sein Reich, nicht aber, wie in häufiger menschlicher Selbstüberschätzung vermutet, zu ihm selbst.

Dem spiegelsymmetrischen Aufbau folgend, greifen die folgenden drei Sätze in umgekehrter Reihenfolge wieder thematische Verwandtschaften der ersten drei Teile auf, wobei die große Stimmig- und Schlüssigkeit der ausgesuchten Bibeltexte in diesen Sätzen nicht mehr ganz die Höhe der ersten vier Teile erreicht, trotzdem aber sehr eindrucksvoll bleiben. Allein schon die außergewöhnliche Dimension der Schlußfuge des 6. Satzes: „Herr, Du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft, denn Du hast alle Dinge erschaffen …“ reicht kompositorisch ohne weiteres an die bedeutendsten Werke des Barocks heran und entfaltet eine bezwingende Klangfülle und Macht.

Alle Sätze des Brahms-Requiems weisen eine aufwärts führende Tendenz auf, vom Niederen zum Höheren, vom Leid zur Freude, vom Irdischen ins Geistige. Allein schon deshalb kann sich kein dauerhaftes Empfinden der Trauer und Bedrückung einstellen, sondern viel eher … Sehnsucht!

Wenn auch Äußerungen von Johannes Brahms den Schluß zulassen, daß er sich – tagbewußt – durchaus mit Zweifeln und „Unglaube“ plagen mußte, so ist das verständlich: woher hätte er damals Besseres erfahren können? Und doch … sein Inneres, sein Geist muß das Höhere schon deutlich empfunden haben. Wie sonst hätte er ein derart ergreifendes Meisterwerk schreiben können!

Er hat mit seinem Requiem ein Vermächtnis hinterlassen, das mit zu den beeindruckendsten Leistungen des menschlichen Kunstschaffens gehört und für alle Menschen, die sich ihm öffnen wollen, eine wirkliche Hilfe für den Aufstieg darstellt! Es lohnt den Versuch, sich von diesem Werk nicht nur für wenige Stunden weichstimmen zu lassen, sondern die große Auftriebskraft, die darin liegt, zu nutzen!


Literatur:
Johannes Brahms, Leben und Werk, Wiesbaden 1983
Floros Constantin, Johannes Brahms – Frei, aber einsam, Zürich-Hamburg 1997
Brahms op. 45, Eulenburg Taschenpartitur No. 969, London-Zürich-New York o. J.
Kross Siegfried, Brahms, Ein deutsches Requiem, CD-Beilage Polydor GmbH, Hamburg


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